Photography: PIXABAY -lizenzfrei

Die veränderte Realitätssicht als Hauptsymptom der Sucht

Lange Zeit galt die mangelnde Behandlungsbereitschaft von Suchtkranken als ein Mangel an Krankheitseinsicht, eine lästige Abwehr dessen, was doch leicht ist einzusehen. Die Tradition der Zwölf-Schritte-Programme (AA, NA usw.) erwartet vom Suchtkranken eine Art Läuterung, eine völlige Umkehr und Kapitulation vor der übermächtigen Droge, wenn er wahrhaftig änderungsbereit ist. Was aber, wenn das Nicht-Erkennen der Realität beim Suchtkranken keine Folge, sondern eine Begleiterscheinung oder gar Ursache der Suchterkrankung ist? Auch diese Sicht sollte nach heutiger Forschungslage in Betracht gezogen und in therapeutisches Handeln transferiert werden.

Verzerrungen gehören zur Sucht – bei Entstehung und Aufrechterhaltung

Sucht hat viel mit Verzerrungen, Abwehr und Leugnung zu tun. Alltagssprachlich wird dann von Verheimlichen, Lügen, Täuschen und Betrügen gesprochen. Dies bedeutet dann aber automatisch auch eine Abwertung und oft Stigmatisierung der betroffenen suchtkranken Person. Dadurch wird sie noch schwerer erreichbar. Aber die ganze Abwehr stillschweigend zu akzeptieren ist auch keine Lösung, besonders nicht für die Angehörigen. Ist der Suchtkranke für diese Folgen in Kognition und Verhalten verantwortlich oder läuft ein Programm, das sie selbst nicht mehr kontrollieren kann?

Wenn wir uns den Erlebenshintergrund suchtkranker Menschen anschauen, sind es oft Scham- und Schuldgefühle, die zunächst als Gründe für die Abwehrverhaltensweisen ins Auge fallen. Es sieht also so aus, dass Suchtkranke zumindest spüren oder vielleicht sogar genau wissen, dass sie Dinge tun, die sie vor ihrem eigenen Wertesystem nicht tun sollten und sie daher vor ihrem Bewusstsein abwehren müssen. Diese kognitiven Abwehrmechanismen werden sowohl in der Entstehungs- als auch in der Aufrechterhaltungsphase der Sucht beobachtet. Ihnen liegen, wie inzwischen erforscht ist, neurobiologische Prozesse, insbesondere in Frontalhirn und im limbischen System zugrunde.

Abwehr – ein schleichender Prozess mit vielen Facetten

Die kognitiven Abwehr- und Verzerrungsmuster, die sich bei Suchtkranken zeigen, entwickeln sich meist schleichend, parallel zum fortschreitenden problematischen Substanzkonsum oder dem Verhaltensexzessproblem, wie etwa Kaufsucht oder Glücksspielsucht. Kognitive Abwehr taucht in vielen Situationen des Alltags auf, auch bei Ängsten und emotionalen Krisen. Sie ist also kein Spezifikum für Suchterkrankungen. Im Gegenteil: Die Psychoanalyse hat in ihrer über 100-jährigen Geschichte ein fein differenziertes Verständnis für emotionale Abwehrprozesse bei Menschen geschaffen, von der Abwertung, der Verleugnung, der Verdrängung bis hin zur Sublimierung und Rationalisierung.

Bei Suchtstörungen sind die Abwehrbildungen jedoch meist wesentlich stärker und – im Falle der Substanzstörungen – psychopharmakologisch verursacht oder zumindest beeinflusst (vgl. den Beitrag „Von der Lust am Widerstand zur Unfähigkeit zur Anpassung – eine Reise durch die psychologischen Abwehrmechanismen bei Sucht“ vom 01. April 2020 unter https://www.addiction.de/abwehr-corona/). Diese Verursachung hat ihren Grund zum einen in den akut sedierenden und bewusstseinsverändernden Wirkungen der Substanzen, zum anderen – und dann dauerhafter und am Ende chronisch – in den kognitiven und emotionalen Reaktionen auf Kontrollverlust und exzessiven Konsum („bingeing“).

Die suchttypischen psychologischen Reaktionen können – im Unterschied zu den punktuellen Intoxikationseffekten – sowohl bei Substanzkonsum als auch bei Verhaltensexzessproblemen als Reaktion auf Verlangen („craving“) und Entzug („withdrawal“) als kognitive Gegenregulation auftreten. Es handelt sich also hier im Grunde um kognitive Anpassungsprozesse an sich veränderndes Verhalten und Selbsterleben, um ein homöostatisches Gleichgewicht des Selbst (Selbstbild, Selbstwert) aufrechtzuerhalten.

Und jetzt? Wie geht es weiter?

Für die Forschung sind noch viele Fragen zu klären. Wieso verlaufen die kognitiven Reaktionen bei Suchtmittelkonsum bei verschiedenen Menschen oft sehr anders? Gibt es neben den Persönlichkeitsauffälligkeiten ein spezifisches kognitives Risikoprofil zur Entwicklung einer Suchtstörung? Was sind bei den kognitiven Effekten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Substanzen oder gar zwischen Substanzsüchten und Verhaltenssüchten? Wie hängen die intrapsychischen Prozesse mit der realen Lebenswelt der Betroffenen zusammen? All dies wird weiter erforscht werden müssen. Aber heute ist schon klar, dass den kognitiven Prozessen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Sucht eine starke Rolle zukommt. Suchtkranke sollten in Beratung, Therapie und Selbsthilfe neugieriger auf sich selbst werden oder eben dorthin geführt werden – vor allem durch Psychoedukation oder positive Modelle. Die eigene (und dann die gesamte) Welt wieder ohne Kurzsichtigkeit und mit umfassenderer Wahrnehmung aufzunehmen, stellt aus psychologisch-mentaler, aber auch aus spiritueller Sicht einen Welt“gewinn“ dar.

Was sie dann entdecken, kann durchaus schmerzhaft sein – womit wiederum die Entstehungsursachen der Sucht berührt sind. Aber es führt auf jeden Fall zu einer tieferen Selbstwahrnehmung. Per aspera ad astra. In diesem lateinischen Satz ist viel zeitlose Wahrheit drin. Und Astra meint hier kein hanseatisches Bier, sondern – viel besser – es sind die Sterne.